Frei und unbeschwert wie ein Adler schwingt sich der Osttiroler Adlerweg durch die Hohen Tauern. In neun Etappen führt er von Ströden im Virgental zum Lucknerhaus bei Kals am Großglockner. Erik Van de Perre begab sich auf eine spektakuläre Bergwanderung durch die Venediger- und Glocknergruppe.
Wo ist die Brücke? Erstaunt schaue ich auf den Gletscherbach zu unseren Füßen. Von der Brücke, die der Wirt der Essener und Rostocker Hütte erwähnt hatte, fehlt jede Spur. »Er meinte eine Schneebrücke«, grinst Sigi. Und die ist nun bedauerlicherweise nachts dem Regen zum Opfer gefallen. Sigi Hatzer (56), der Chef der Venediger Bergführer, nimmt es gelassen. Denn er hat ja die Alpenstange …
Beim gestrigen Aufstieg wunderte ich mich noch, was er mit dem gut zwei Meter langen, vorzeitlich anmuten-den Stab vorhaben könnte. Für die Venediger Bergführer ist die Alpenstange, die schon viele Alpinisten im 19. Jahrhundert mitführten, auch heute noch Standardaus-rüstung, denn der lange Holzstab mit Eisenspitze bietet viele Vorteile – vom Lokalisieren von Gletscherspalten bis zum Schlagen von Stufen in vereisten Schneefeldern. Einen weiteren Nutzen demonstriert Sigi gleich: Er nimmt kurz Maß, pflanzt den Stab in die grauen Fluten und schwebt wie ein Stabhochspringer auf die andere Seite. Mir bleibt da leider nur das Durchwaten.
Gleich darauf wartet der Maurerbach. »Dort gibt es eine feste Brücke«, versichert Sigi. Das heißt: Der mas-sive Stahlträger ist an seinem Platz, aber die nach dem Sommer abgebaute Alubrücke liegt noch am Ufer. »Lust auf Slacklining?«, frohlockt mein Begleiter und deutet auf den schmalen Stahlträger, der 1,5 Meter über dem rauschenden Fluss schwebt.
In den Bergen ist es noch Winter
Es ist Mitte Juni. Unten im Tal hockt man schon auf der Terrasse, doch in den Bergen ist es noch Winter. Ich bin froh, dass der Bergführer dabei ist, denn so früh in der Saison könnte eine Tour auf dem Osttiroler Adler-weg rasch zu einem heiklen Unternehmen werden, wie sich in den nächsten Tagen herausstellen soll.
Vor uns liegen riesige Schneefelder, eben noch freie Gipfel werden im Nu von den Wolken verschluckt. Wäh-rend sich der Weg hochschraubt, werden wir gar von Graupel- und Schneeschauern bearbeitet. Erst als es im Türmljoch aufreißt, entdecke ich den wuchtigen Felsklotz, der rechts in den Himmel wächst. Das Türml gehört zu den Lieblingsbergen von Sigi, der dort sogar einen Klet-tersteig (Schwierigkeitsgrad C) eingerichtet hat.
Beim Abstieg zur Johannishütte ist das Wetter wie verwandelt. Auf den Almwiesen leuchten der gelbe und blaue Enzian, Frauenmantel und die ersten Alpenrös-chen in der Sonne. Murmeltiere pfeifen, im Fels starrt uns ein Gamsbock an.
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