Auf Gran Canaria haben Vulkanausbrüche und Erosion eine atemberaubende Landschaft erschaffen, die seit 2005 UNESCO-Biosphärenreservat ist. Im Zentrum der Insel, der sogenannten Cumbre de Gran Canaria, recken sich die Vulkangipfel fast 2.000 Meter hoch in den Himmel. Im Frühjahr erlebt man hier die Blüte des endemischen Blauen Natternkopfes.
Ein betörender Duft steigt in die Nase, während man durch hüfthohe, blaue Natternköpfe – auf Spanisch Tajinaste Azul – wandert. Der Weg schlängelt sich durch ein blaues Blütenmeer, das sich den gesamten Berghang hinabzieht. Vor allem im Frühjahr können Naturliebhaber und Wanderer auf Gran Canaria dieses einzigartige Naturschauspiel erleben. Dann steht die endemische Pflanze der Kanarischen Inseln, lateinisch Echium callithyrsum in voller Blüte. Die Pflanze, die es auch in einer weißen, einer rosafarbenen und einer roten, eher auf Teneriffa verbreiteten Variante gibt, ist extrem selten und durch invasive Arten sowie menschliche Eingriffe bedroht. Daher arbeiten auf Gran Canaria Naturschutzorganisationen und Gemeinden an Schutzmaßnahmen.
Die Monate Februar bis Mai sind ideal, um die Ruta del Tajinaste Azul, eine je nach Startpunkt fünf bis acht Kilometer lange Wanderung durch die spektakuläre Landschaft der östlichen Gipfelregion, anzugehen. Auf der Route durch die Region rund um Valsequillo erlebt man allerdings nicht nur die dichten, kerzenförmigen Blütenstände, die eine Höhe von bis zu zwei Metern erreichen können, sondern auch geologische Highlights wie den Vulkankrater Caldera de los Marteles.
FEDERNDER WALDBODEN
Der Weg führt auch durch lichte Kiefernwälder, die die Gipfelregion umgeben. Der mit Nadeln bedeckte Untergrund federt bei jedem Schritt; in der Mittagshitze steigt der Kiefernduft intensiv in die Nase und lässt Saunagefühle aufkommen. Nur die Kanarischen Kiefern halten die Temperaturextreme der Insel aus. In der Cumbre genannten Gebirgsregion können die Temperaturen über 40 Grad im Sommer und nur fünf Grad im Winter betragen. Das spürt man auf der Wanderung am eigenen Leib: vor allem im Winterhalbjahr muss man, je höher man steigt, umso mehr Kleiderschichten anlegen. Ein eisiger Wind zerrt an den Jacken, während sich an der Küste die Badegäste in der Sonne räkeln. Im Sommer verhält es sich umgekehrt. Dann ist es in den Bergen heißer als am Strand.
Entsprechend robust sind auch die Natternköpfe, die bevorzugt auf den offenen Hochebenen zwischen 800 und 1.500 Metern Höhe wachsen. Die Ruta del Tajinaste Azul beginnt in Tenteniguada, das etwa 850 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Von hier aus folgen Wanderer gut markierten Wegen, die zunächst zum Mirador del Tajinaste Azul führen, einem Aussichtspunkt, von dem aus man das Blütenmeer in seiner ganzen Pracht überblicken kann.
Später führt die Tour durch die Schlucht Barranco de San Miguel, die für ihre üppige Vegetation und beeindruckenden Felsformationen bekannt ist. Schließlich erlebt man im Vulkankrater Caldera de los Marteles die Entstehungsgeschichte der Insel. Man geht durch eine von Lavaströmen geschaffene, schroffe Urlandschaft. Felswände von über hundert Metern Höhe erheben sich senkrecht über den Wanderern. Dazwischen klaffen tiefe Schluchten, deren geologische Entstehungsgeschichte 14 Millionen Jahre zurückreicht; in die Zeit nämlich, als Gran Canaria aus einem großen Vulkan entstand. Ein mehrere Millionen Jahre andauernder Erosionsprozess schuf rund um den Vulkan Roque Nublo, der sich in der Mitte der Insel befindet, die charakteristische Landschaft Gran Canarias mit ihren bizarren Felsnadeln und -zinnen sowie mächtigen Canyons.
Die trockenen Canyons sind nach Regenfällen im Frühjahr oft mit einem vielfarbig blühenden Blumenteppich überzogen. Nur wenige Tage hält der Blütenzauber nach dem Regen an. Sonst sieht man hier eher die kleinen Kaktusblüten von zarter, nahezu anrührender Schönheit, staubige Yucca-Palmen, Ginsterbüsche und andere Halbwüstenvegetation. Die Cardón genannten Wolfsmilchgewächse, die im trockenen Süden überall zu sehen sind, wurden sogar zum Symbol Gran Canarias erklärt.
AUF DEN SPUREN DER GESCHICHTE
Häufiger als der Blaue Natternkopf ist der Weiße Natternkopf, der an vielen Stellen seine bis zu übermannshohen Blütenstauden in den Himmel reckt. Die Tajinaste Blanco kann man zum Beispiel auf Wanderungen durch die Schluchten Barranco Guiniguada, Barranco de la Aldea sowie Barranco de Tirajana erleben.
Auf einer Tour am Rand der Schlucht Barranco de Tirajana, etwas südlich von Valsequillo, blickt man hinab auf prächtige Palmenhaine, den smaragdgrünen Stausee Presa de Sorrueda und auf drei Felsmassive, die wie Festungen aufragen und auch so heißen: Fortaleza Grande (»Große Festung«), Fortaleza Chica (»Kleine Festung«) und Titana. Im Frühjahr watet man auch hier durch eine Blütenpracht – nicht zuletzt der Tajinaste Blanco.
Das Tal ist nicht nur erdgeschichtlich interessant (man kann hier eindrucksvolle Basaltschichtungen betrachten), sondern gibt auch tiefe Einblicke in die frühe Siedlungshistorie. Hierher hatten sich die Urkanarier vor den spanischen Eroberern zurückgezogen. Dies wird in der teilweise begehbaren Fundstätte und dem zugehörigen Museum anschaulich erklärt.
Die frühen Bewohner, Berberstämme aus Nordafrika, die von den Römern hier angesiedelt worden waren, nannten die Insel »Tamarán«. Die Schrift der Canarios ist bis heute nicht entziffert. Dennoch verrät die Insel immer noch viel über ihre Lebensweise und ihre Sitten. An vielen Stellen der Insel, wie zum Beispiel bei Temisas im Südosten, sind die Felswände durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Diese Höhlen entstanden als Magmablasen bei Vulkanausbrüchen und waren die früheren Wohnstätten und Vorratskammern der Canarios. Noch heute werden die Höhlen von den Bewohnern der Kanarischen Insel genutzt – zum Wohnen, für Restaurants mit besonderem Ambiente oder für beliebte Touristenunterkünfte.
Wer noch mehr Urkultur erleben will, der wandert in der Nähe von Arteara entlang des Jakobswegs. Dieser passiert Steinhaufen, von denen die größeren fast wie Iglus aussehen – mit einem Eingang zum Durchkriechen. Es handelt sich um eine Nekropolis mit über 800 Gräbern, die im langen Zeitraum vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 18. Jahrhundert von den Urkanariern zur Totenbestattung genutzt wurde.