Auf der Via Capricorn steht das Bündner Wappentier im Mittelpunkt: der Alpensteinbock. Die dreitägige Runde führt mitten durch das Revier der Steinbockkolonie am Piz Beverin.

Das Erste, was mir frühmorgens auffällt, ist der würzige Duft von frischem Heu, so intensiv, wie man ihn nur in den Bergen erleben kann. Dazu gesellt sich fernes Bimmeln von Kuhglocken. Erinnerungen an meine Kindheit und Sommerferien in den Bündner Bergen werden wach. Tolle Wandermöglichkeiten gab es natürlich auch damals. Was nicht existierte, waren Wanderbusse, mit denen man sich unnötige Höhenmeter sparen konnte. Heute gibt es allein im Naturpark Beverin sieben Stück, darunter der Bus alpin Beverin, der uns von Wergenstein, einem kleinen Bergdorf im Val Schons, zum Wanderparkplatz Tguma bringt, 800 Meter höher.
Vor uns liegt eine Drei-Tages-Tour auf der Via Capricorn, benannt nach dem Alpensteinbock (Capra ibex) – Capricorn auf Rätoromanisch. Das Steinwild, das hier die Berge durchstreift, gehört zur Schweiz wie das Bier zur Kneipe. Dabei war es fast um das Bündner Wappentier geschehen. Durch die intensive Jagd war der Steinbock zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Alpenraum so gut wie ausgerottet. Nur im italienischen Gran Paradiso überlebten rund 100 Tiere. Damit sich der Bestand erholen konnte, erklärte Viktor Emanuel II., König von Sardinien-Piemont, das Steinbockgebiet 1856 zum königlichen Jagdrevier. Etwa 50 Jahre später gab es Bestrebungen, den Steinbock auch in der Schweiz wieder anzusiedeln, doch der damalige König wollte keinen herausrücken. Da erhielt Joseph Bérard, ein Wilderer aus dem Aostatal, einen Geheimauftrag. Er begab sich in das gut bewachte königliche Revier, klaute drei Kitze und schmuggelte sie über die Grenze in die Schweiz. In den nächsten 30 Jahren wurden insgesamt 59 geschmuggelte Kitze in St. Gallen aufgezogen und in Schutzgebieten ausgewildert. Mit Erfolg: Heute gibt es in der Schweiz wieder über 18.000 Steinböcke, allein 7.000 in Graubünden. Rund 350 Tiere zählt die Kolonie Safien-Rheinwald, die in den Bergen zwischen Piz Beverin und Alperschälli lebt.
Die ersten Steinböcke
Die Luft auf 2.300 Metern ist kühl. Eine leichte Brise streicht über das grüne Plateau voller weidender Kühe. Mit einer Fläche von 2.700 Hektar ist die Alp Anarosa die größte Bündner Alp. Und sie scheint sich gut erholt zu haben – von einem Fluch! Der Legende nach war das Gras auf der Alp Anarosa so saftig, dass die Besitzerinnen, die Schwestern Anna und Rosa, das Vieh dreimal am Tag melken mussten. Eines Tages, als sie dies bei einem Besuch im Tal vergaßen, platzten die Euter ihrer Tiere. Die Schwestern waren so wütend, dass sie die Alp verfluchten, sodass die Weiden verdorrten.
Einige kauende Kühe starren uns teilnahmslos an. Andere Alpbewohner zeigen sich aufgeregter. Lautes Pfeifen verrät, dass wir eine Kolonie von Murmeltieren durchqueren. Einige der scheuen Nagetiere sonnen sich auf einem Felsen, andere wuseln nervös umher oder verschwinden prompt in ihren langen Fluchtröhren, als wir uns nähern.
Wir rasten kurz bei der Alp Nurdagn. Das ist eine typische Alpbeiz, das heißt eine bewirtschaftete Kuhalp, die Speis’ und Trank sowie eine einfache Schlafgelegenheit bietet. Als der Almweg zu einem schmalen Pfad schrumpft, erspähen wir die ersten Steinböcke. Auf einem entfernten Grat zeichnen sie sich mit ihren langen, säbelförmig nach hinten gebogenen Hörnern deutlich gegen den blauen Himmel ab. Wenig später winkt ein Bad im eiskalten Lai Grand oder »Großen See«, der türkisfarben in einer Mulde schimmert.
Der Weg wird nun steiler und schraubt sich hoch zur Farcletta digl Lai Grand, einem 2.660 Meter hohen Pass, der die Sprachgrenze markiert: Im Val Schons, hinter uns, spricht man Rätoromanisch, im Safiental, vor uns, Deutsch. Auf der Passhöhe befindet sich einer der Wildtierbeobachtungspunkte des Naturparks Beverin, eingerichtet an Stellen, an denen die Chancen, Wildtiere zu sehen, besonders hoch sind. In einer Box liegen dazu ein Fernglas und Infomaterial über Steinbock, Schneehuhn und Murmeltier bereit. Das Fernglas wandert umher in der Hoffnung, Steinwild zu erspähen. Doch die kompakten Hornträger zeigen sich nicht. Wir sehen nur ein paar Gämsen, die im Steilhang des nahen Gelbhorns balancieren – immerhin. Auch das Panorama der umliegenden Bergwelt macht vieles wieder wett. Im Südosten entdecken wir sogar den Piz Bernina (4.048 m), den einzigen Viertausender Graubündens.
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