Paradies für Alpensteinböcke

Das Schutzgebiet im Nordwesten Italiens hat die einst bedrohte Tierart vor dem Aussterben bewahrt

Erst waren die Berge südlich des Aostatals ein königliches Reservat, heute bilden sie den Nationalpark Gran Paradiso. Im Westen bereichert der französische Nationalpark Vanoise das Schutzgebiet, im Osten der nahe Naturpark Mont Avic. Die beliebte Feriendestination lockt mit wild-romantischen Tälern, vielen Wanderwegen und vergletscherten Gipfeln.

TEXT: ANDREA STRAUSS / BILDER: ANDREAS STRAUSS

Ein dumpfes Rumpeln und Kratzen wird aus den Holzkisten gekommen sein, die im Gastraum des Restaurants Darbéley in Martigny standen. Ob von den Gästen jemand mit verhaltener Neugier zugesehen hat, als der Herr im feinen Anzug mit dem etwas verwegen aussehenden Bergler per Handschlag das Geschäft besiegelte und ihm 1.600 Schweizer Franken auf den Tisch zählte? Man weiß es nicht, denn die Übergabe der Schmugglerware fand schon am 22. Juni 1906 statt.

Geschmuggelt wurden damals eine junge Steingeiß und ein junger Steinbock, die der Wilderer Joseph Berard im königlichen Jagdrevier in den Grajischen Alpen eingefangen hatte und seinem Auftraggeber, dem St. Gallener Hotelier Robert Mader, übergab. In den fast dreißig folgenden Jahren entwickelte sich daraus eine stabile Geschäftsbeziehung. Insgesamt wurden 59 Kitze in die Schweiz geschmuggelt – bei steigenden Preisen.

WIE JAGDFIEBER DIE STEINBÖCKE RETTETE
Diebstahl, Schmuggel und Hehlerei sind keine Kavaliersdelikte – trotzdem ist in diesem Fall etwas Gutes aus dem dunklen Geschäft entstanden. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war der Alpensteinbock nämlich bis auf eine kleine Population im Gran-Paradiso-Gebiet ausgerottet.

Dort stand seit den 1850er-Jahren ein großes Areal als Jagdgebiet des Königs Vittorio Emanuele II. unter Schutz. Eigens angestellte Jagdwächter hüteten die verbliebenen 50 bis 100 Steinböcke wie des Königs Augapfel. Auf jeden Steinbock kamen zwei Wächter! Nur Vittorio Emanuele II. selbst sollte sie erlegen dürfen. Der leidenschaftliche Jäger ließ mehrere Jagdhäuser errichten, darunter auch die heutige Alpenvereinshütte Rifugio Vittorio Sella, und rund 300 Kilometer Saumpfade – Wege, die wir heute als Wanderer gerne nutzen. Obwohl der König eigentlich sein persönliches Vergnügen im Sinn hatte, entstand so am Gran Paradiso das letzte Refugium des Steinwilds. Der Bestand konnte sich erholen. Auf die Anfragen aus der Schweiz, ob man nicht zu Zuchtzwecken Jungtiere bekommen könnte, gingen die italienischen Könige in den folgenden Jahrzehnten aber nicht ein.

So nahm Robert Mader mit dem bekannten Wilderer Joseph Berard Kontakt auf. Das Geschäft wurde 1905 eingefädelt, Martigny als Übergabeort vereinbart, und 1906 wurden die beiden ersten geschmuggelten Kitze übergeben. Alte Fotografien zeigen die Tierpfleger in St. Gallen, wie sie die Kleinen in ihrer neuen Heimat mit der Flasche aufziehen. 1920 gab es die erste erfolgreiche Auswilderung in Graubünden. Heute leben im Alpenraum wieder Zehntausende Tiere, allesamt Nachkommen der Steinböcke vom Gran Paradiso.

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