Diese Route zieht sich wie eine legendäre Linie durch Italien: Sie verknüpft Neapel mit Rom und dem Gardasee. Dazwischen: knackige Trails, endlose Schotterpisten und fast 20.000 Höhenmeter durch den Apennin. Ein Bikepacking-Abenteuer, das wilde Natur mit Kultur und der besten Pasta der Welt garniert.

Die Nervosität liegt spürbar in der Luft, als sich am frühen Morgen 125 Radfahrer vor dem Campingplatz Zeus in Pompeji versammeln. Wie Rennpferde in den Startboxen, die ungeduldig mit den Hufen scharren, stehen die Athleten Seite an Seite. Monatelang haben wir für diesen Moment trainiert – 1.263 Kilometer und 19.000 Höhenmeter liegen vor uns. Die Stimmung ist elektrisierend – ein Gemisch aus Vorfreude und Respekt vor der gewaltigen Herausforderung. Zwischen den hochmodernen Carbonrädern und blitzenden Titanrahmen werden letzte Luftdruckkontrollen durchgeführt, Taschen nachgezurrt und GPS-Tracks überprüft. Der Vesuv thront majestätisch über der antiken Stadt, seine Spitze ist in Wolken gehüllt. Ein Vorbote des kommenden Wetterumschwungs.
Über den Feuerberg
Kurz nach 10 Uhr gibt der Veranstalter das ersehnte Startsignal. Im Pulk geht es zunächst durch die Vororte Neapels, bevor der erste große Anstieg zum Vesuv-Nationalpark beginnt. Wie eine endlose Schlange windet sich die Kolonne der Fahrer die Serpentinen hinauf. Der Weg führt durch leuchtend gelb blühenden Ginster, während sich unter uns der Golf von Neapel in seiner ganzen Pracht ausbreitet. Das tiefblaue Wasser wird von vereinzelten Frachtschiffen durchkreuzt, die aus dieser Höhe wie Spielzeuge erscheinen. Die imposante Bergkette bildet eine natürliche Amphitheaterkulisse um die Bucht. Doch die idyllische Aussicht währt nicht lange.
Der Triumph des Aufstiegs wird jäh gedämpft, als wir in eine graue Wand aus Nebel und Regen eintauchen. Die Temperatur fällt rapide, der Wind pfeift um die Ohren. Hastig werden Regenjacken und Überschuhe aus den Taschen gezogen. Die Abfahrt wird zur Rutschpartie. In kleinen Gruppen tasten wir uns vorsichtig den Berg hinunter durch die gespenstische Nebelsuppe.
Auf dem Weg nach Norden bilden sich schnell Radlergruppen. Mit jedem Kilometer wächst der unsichtbare Kitt zwischen uns – was als zufälliges Zusammentreffen begann, Pflasverwandelt sich in eine Schicksalsgemeinschaft auf zwei Rädern. Das hohe Tempo lässt sich im Windschatten besser halten. Bei Kilometer 83 wartet der zweite große Anstieg des Tages. Die Beine werden schwerer, aber die mediterrane Landschaft entschädigt mit pittoresken Dörfern und weiten Ausblicken.
Als wir am späten Nachmittag die Stadt Isernia erreichen, steht eine Entscheidung an: Hier übernachten oder weiterfahren? Mit einem jungen Tschechen rolle ich zu einem Supermarkt. Jakub und ich nehmen die Bikes mit in den Laden und füllen unsere Vorräte auf. Im nächsten langen Anstieg bricht die Dämmerung herein. Scheinwerfer an und gemächlich weiter.
Die Stunden vergehen. In den Dörfern Villa San Michele und San Pietro Avellana klopfen wir vergeblich an verschlossene Türen – kein Zimmer mehr frei! Jakub entscheidet sich, in einem Restaurant auf dem Boden zu übernachten. Er hat Matte und Schlafsack dabei. Ich nicht. So geht es alleine weiter. Nun möchte ich einen Trumpf ausspielen. Tags zuvor hatte ich drei Fahrer aus Bayern kennengelernt: »Wir haben eine Ferienwohnung reserviert. Wenn du möchtest, kannst du auf der Couch schlafen «, hieß es. Die Hoffnung auf ein Zimmer lässt mich weiterkurbeln. Doch was als vermeintlich einfache Abfahrt beginnt, entwickelt sich zum Drama. Der aufgeweichte Boden verwandelt sich in eine klebrige Masse, die sich erbarmungslos an Rahmen, Reifen und Taschen festsetzt. Die Laufräder blockieren, selbst Schieben wird zur Qual.
Als ich gegen Mitternacht endlich die Ferienwohnung erreiche, sind die drei Bayern noch wach. Lukas, der Schnellste im Bunde, hat vorausschauend für alle Pizza besorgt. Thomas und Frieder sind ebenfalls vor mir eingetroffen – zwei Mitstreiter, mit denen ich später ganz andere Herausforderungen der Italy Divide meistern werde, auch wenn ich das noch nicht ahne. Nach 211 Kilometern, über 3.400 Höhenmetern und einem völlig verschlammten Rad endet die Auftaktetappe mit einem warmen Empfang und dem Gefühl, dass dies erst der Anfang einer besonderen Reise ist.
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