Neben Italo-Pop beim Aperol Spritz in der zollfreien Shoppingmeile oder Murmeltierpfeifen auf grünen Wiesenmatten – ein Geräusch mischt in Livigno immer mit: das feine Klicken der Schaltgetriebe. Das abgeschiedene Hochtal in den Lombardischen Alpen kombiniert Dolce Vita mit E-Mountainbike-Touren für alle Könnerstufen.

Er rollt nochmal nach Hause und holt seinen Helm. Mario Mottini weiß auch nicht, wie er ihn vergessen konnte. Die Livigno-Tee-Tour ist für den erfahrenen Tour-Guide zwar eine einfache Route. Doch es gibt da eine Stelle, die hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Er ist von kleiner Statur, drahtig und seine durchdringende Stimme hört jeder anvertraute Schützling auch noch, wenn er sich weit entfernt hat. Sie spricht für die Energie, die in dem dunkelhaarigen 75-Jährigen mit den blitzenden Augen steckt. Ein echter Livignaschi. So heißen die Einheimischen in Livigno.
In Marios Blutkreislauf zirkulieren mehr rote Blutkörperchen als bei denen, die hier zum Urlaub anreisen. Denn Livigno liegt auf 1.816 Metern Höhe. Ins »Tibet der Alpen« pilgern Jahr für Jahr zig Sportler, ob sie auf dem Rennrad, für Biathlon oder Fußball trainieren, ob Profis oder ambitionierte Hobby-Athleten. Der Austragungsort für Freestyle- und Snowboard- Wettbewerbe bei Olympia 2026 hat seine einst nachteilige Lage umgemünzt: Früher war das Hochtal im Winter oft lange vom Rest der Welt abgeschnitten, in den kurzen Sommern wuchs hier nicht viel. Nun verdient Livigno Geld mit dünner Luft – ein zugkräftiges Alleinstellungsmerkmal.
Dicke Reifen, die über’s Pflaster schnurren, dazwischen präzises Klicken der Schaltungen – diese Geräuschkulisse ist im Sommer allgegenwärtig. Selbst wenn die Sonne gerade erst über die Kante der östlichen Talflanke blinzelt – die eine Seite einer breiten Wanne. Ein Gletscher hobelte sie einst abseits alpinen Mainstreams zwischen Ortler und Piz Bernina. Die meisten finden durch eine lange, schmale Röhre an der Schweizer Grenze hierher. Hinter dem einspurigen Tunnel Munt la Scherra empfängt einen ein neun Kilometer langer Speichersee, der Lago di Livigno. Bald strampeln erste Pulks am Straßenrand.
3.200 Kilometer Vielfalt
Mario Mottini kurbelt das leuchtend orange E-Mountainbike eines italienischen Herstellers vorwärts. Den sanften Anstieg würden seine trainierten Waden locker ohne 650-Watt-Motor meistern. Noch wirkt das voll gedämpfte Gefährt überdimensioniert: Es fühlt sich an, als führe man einen Trecker unter dem Po spazieren. An der Pont de la Calcheira hält Mario. Bei der großen Übersichtstafel mit Bike-Karte deutet er auf die roten Linien und erklärt: »Geradeaus geht es ins Federiatal. Von dort kann man über den Chaschauna- Pass ins Oberengadin fahren. Nach Osten führt ein Trail in den Nationalpark Stilfserjoch. Wir biegen links ab, nehmen Weg Nummer 190 für die Livigno-Tee- Tour.« Ob mit oder ohne Motor, in Livigno darf man auf allen Wegen mountainbiken. Damit eröffnen sich 3.200 Kilometer Vielfalt: vom asphaltierten Radweg über flowige, hangparallele Strecken bis zu kniffligen Downhill-Passagen und Trails über Gebirgspässe und auf knapp 3.000 Meter hohe Gipfel.
Mal geht es über feinen Schotter, mal auf sandiger, schmaler Spur, mal über gröbere Steine. Wo Wasser den Weg quert, spritzt es angenehm kühl an die Beine. »Wenn der Weg abfällt, schnell den Sattel absenken und das Gewicht nach hinten verlagern. Besser im Stehen fahren, um das Gleichgewicht zu halten!«, brüllt Mario in den Fahrtwind. Der Weg läuft zwar annähernd höhenlinienparallel, doch zwischendurch sorgen kurze, steile Ab- und Aufwärtspartien für Tempowechsel. Da ist der sogenannte Dropper-Post praktisch: Per Fernbedienungshebel am Lenker schnellt die Teleskopsattelstütze nach unten, bei erneutem Drücken wieder hoch. Blöd nur, wenn man den Mechanismus versehentlich auslöst, anstatt zu schalten. Zack – sitzt man eine Etage tiefer und guckt verdattert aus der Funktionswäsche.
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