Osten? Westen? Auf dieser Tour fragen sich Radler immer wieder, wo sie gerade entlangholpern.
So zwischen BRD und DDR hin und her zu springen – vor über 30 Jahren undenkbar. Wer dem Eisernen Vorhang folgt, erlebt Deutschland von seiner stillen Seite: Mittelgebirge, Wälder, Felder, dazu viele Mahnmale.
In den letzten 30 Jahren bin ich hunderttausende Kilometer kreuz und quer durch Europa geradelt und kaum eines war so bewegend wie die Fahrt entlang des Grünen Bandes. Als ich mit dreizehn Jahren zur ersten Radreise in den Sattel kletterte, gab es noch die BRD und die DDR. Jetzt stehe ich auf dem Pferdeberg. Im Norden Duderstadt, Niedersachsen, im Süden Teistungen, Thüringen. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Stille. Einzig der Wind säuselt in einem rostroten Zaun. 25. April. Der Frühling legt gerade richtig los. Ringsum Löwen-zahnblumen, Rapsfelder, darüber blauer Himmel mit Cumuluswolken. Ein Traumtag zum Radfahren. Doch in mir breitet sich ein seltsames Gefühl aus. Vor 25 Jahren hätte ich nicht an dieser Stelle sein dürfen. Der Zaun ist ein Relikt der innerdeutschen Grenze. Sein amtlicher Name: Grenzsicherheitssignalzaunanlage.
GETEILTER KONTINENT
Vor vier Jahren stand ich bereits auf dem Pferdeberg. Damals führte das mittlere Teilstück des Europa-Radwegs Eiserner Vorhang bis Bayern. Seitdem ließ mich die innerdeutsche Grenze nicht mehr los. Auf dieser Reise möchte ich bis ans Ufer der Ostsee fahren. Neun Etappen für den Weg vom Heilbad Heiligenstadt bis nach Travemünde. Der Eiserne Vorhang ist Sinnbild des Kalten Kriegs. Zwischen Anfang der 1950er Jahre bis 1989 durchschnitt eine nahezu unüberwindbare Barriere den Kontinent. Sie reichte auf 6.800 Kilometern von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer. Der Zaun stand während der Kubakrise im Jahr 1962. Er stand bei der ersten Mondlandung 1969. Und er stand, als die Supermächte USA und Sowjetunion Deutschland zu einer Abschussbasis für Atomwaffen machten. Wie durch ein Wunder behielten alle einen kühlen Kopf, in Europa kam es zu einer friedlichen Revolution. Im Schutz der Sperr- und Zaunanlagen eroberte die Natur einen grünen Streifen zurück.