Eine Woche lang ist man unterwegs, um am deutschen Alpenrand entlangzufahren. Von Lindau am Bodensee bis nach Berchtesgaden sammelt man zwar einige Höhenmeter, aber auch viele Höhepunkte: Die Königsschlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein zählen dazu, die Wieskirche und das Kloster Benediktbeuern, die Seen am Alpenrand wie Tegernsee, Chiemsee und Königssee sowie viele stille Flecken zum Genießen.
Die Kurve nach dem Dorfbach fährt man am besten ganz rechts oder exakt mittig an. Dann laufen die Räder nicht über den breiten Riss im Asphalt. Auf der anschließenden Geraden schaue ich nach links. Zweimal habe wiesel gesehen. 998 Mal allerdings nicht. Diesen Abschnitt des Bodensee-Königssee-Radweges kenne ich gut. Ich fahre ihn, wenn ich vergessen habe, Hefe zu kaufen, oder wenn beim Bäcker im Dorf die Brezen aus sind. Aber heute ist alles anders. Der Riss im Asphalt, das Mauswiesel, das zum 999. Mal nicht da ist, und die Abzweigung ins Nachbardorf – alles fühlt sich anders an. Denn heute fahren wir weiter. Wir radeln zum Königssee.
Die Idee war schon vor Corona da, aber die zwei Jahre, die unseren Alltag auf den Kopf gestellt haben, haben den Wunsch verstärkt, in einem der nächsten Sommer auf diesem Klassiker durch Süddeutschland zu fahren. Und so biegen wir nicht zum Dorfplatz ab, später auch nicht zum Hausberg, sondern reduzieren an den Abzweigungen das Tempo, suchen die passende blau-weiße Markierung und radeln durchs Moor. Ich sehe die Nebenstraßen und die verwinkelten Dorfdurchfahrten, die vielen Wegkreuze, die alten solitären Eichen und die letzten blühenden Obstbaumreihen mit den Augen eines Radfahrers, der auf »großer Tour« ist.
Das stimmt natürlich nicht ganz, denn wenn alles nach Plan läuft, sind wir morgen Nachmittag bereits am Ziel, am Königssee in Berchtesgaden, ganz am südöstlichen Rand Deutschlands. Wir wohnen auf Kilometer 310, das letzte Drittel des Weges ist für uns der Anfang, der Rest kommt später.
ALTES MIT NEUEM BLICK
Auf einer kleinen Fußgänger- und Radfahrerbrücke überqueren wir die Autobahn A93 und kurz darauf den Inn. Das fühlt sich wie ein erstes wichtiges Zwischenziel an. Die anschließende Rast oben auf dem historischen Dorfplatz von Neubeuern haben wir uns redlich verdient. Ein schönes Plätzchen. Am Vormittag ist es noch ruhig, nur ein paar Spatzen zwitschern in den Bäumen und vier Frühstücksgäste im Café nebenan unterhalten sich über ihre Urlaubspläne. Durchgangsverkehr gibt es keinen, die beiden engen Torbögen halten jedes größere Gefährt ab.
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