Weites Skigelände in grandiosen Landschaften, moderne Infrastruktur, fortschrittliche Naturschutzkonzepte: Das am Alpenrand gelegene, schneesichere Kleinwalsertal bietet Skitourenspaß auf hohem Niveau.
Abfahrtsgenuss im Kleinwalsertal« steht unter dem Bergpanorama meines Kalenders von 1995, der etwas vergilbt im Gartenhaus hängt. Jedes Mal, wenn ich dort hineingehe, bleibt mein Blick an den mit Pulverschnee überzogenen Steilhängen rund um den Hohen Ifen kleben. So bin ich vor der Anreise gespannt, ob die alpine Szenerie mit dem Kalenderfoto mithalten kann.
»Oh jesses«, entfährt es Berg- und Skiführer Uli Ernst von der Bergschule Kleinwalsertal, als wir am Hohen Ifen die ersten Bögen ziehen. Mein Gesäß hängt zu weit hinten, die Ski haben die Kontrolle über mich, und nicht ich über sie – beim Skifahren im freien Gelände ist Übung gefordert. Uli Ernst ist im Talort Riezlern aufgewachsen. Seit 1988 arbeitet der gelernte Schreiner für die Bergschule Kleinwalsertal –ein lokales Urgestein also. »Neben den rund 130 Pistenkilometern im Skigebiet Oberstdorf-Kleinwalsertal ist das Gebiet auch ein Paradies für Tourengeher«, prophezeit er.
In den österreichischen Alpen gelegen, genauer im Bundesland Vorarlberg, gehört das Hochgebirgstal zur Gemeinde Mittelberg. Wer in Kempten auf die B19 abbiegt und bei Oberstdorf die deutsch-österreichische Landesgrenze überquert, landet im Kleinwalsertal. Rund 16 Kilometer misst das Kerbtal, das nur von Bayern aus zugänglich ist. Riezlern, Hirschegg, Mittelberg und Baad heißen die Orte ab dem Taleingang bei Oberstdorf, und schon jetzt, kurz nach der Anreise, wirkt das Kleinwalsertal wie eine abgeschiedene Siedlung: Umrankt von den Walsertaler Bergen im Norden und Süden, eingebettet in die Allgäuer und Lechtaler Alpen im Osten, begrenzt durch den Bregenzerwald im Westen.
Rund um den Hohen Ifen als imposanten Wächter des Tals, bieten auch das Walmendingerhorn (1.990 m) oder der Große Widderstein (2.536 m) zahlreiche Skitourenmöglichkeiten. Schon vor über hundert Jahren waren hier Bergschrate mit langen Holzbrettern und Lodenhosen unterwegs. E. A. Pfeifer schwärmte 1956 in seinem Buch »Das Kleine Walsertal, ein Alpenjuwel«: »Wer einmal im Winter im Kleinen Walsertal war, kommt immer wieder. Er träumt das ganze Jahr von den Tagen und Wochen, die er dort verbrachte, zumal man dort nicht hinter der Welt, sondern mitten in ihr ist, in der Skiwelt nämlich.« »Eine Explosion der Begeisterung«, denke ich. Doch wie präsentiert sich das Tal heute? Ich werde es erfahren.
ANREISE
Das Kleinwalsertal ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Pkw sehr gut erreichbar. Mit der Bahn bis Oberstdorf, weiter mit dem Walserbus ins Kleinwalser-tal. Mit der Gästekarte ist der Bus gratis. Alle Ausgangspunkte der Skitouren lassen sich mit dem Walserbus bequem erreichen.
ÜBERNACHTEN: NATURHOTEL CHESA VALISA
Das Vier-Sterne-Superior-Naturhotel Chesa Valisa sorgt mit natürlichen Baustoffen wie Holz und Lehm für
ein gesundes Raumklima. Im Alpin-Spa des Wellnesshotels in Hirschegg findet man Entspannung und Regeneration, lässt die Seele baumeln und tankt neue Energie.
naturhotel.de
SKITOUREN
Die rund 40 Berggipfel, die das Klein-walsertal umgeben, bieten zahlreiche Skitouren: von langen Marathontouren bis hin zu kurzen Aufstiegen findet man hier Varianten in allen Levels. Die Hauptgebiete sind der Talschluss in Baad und das Schwarzwassertal mit seinen Tourenoptionen rund um den Hohen Ifen.
NATUR BEWUSST ERLEBEN
Mit der Initiative »Natur bewusst erleben« hat das Kleinwalsertal Lösungen entwickelt, um den wachsenden Druck auf sensible Ökosysteme zu reduzieren. Mit einem umfangreichen Lenkungs-konzept, Informationstafeln, einem Verhaltenskodex und durch ein Ranger-Team vor Ort werden Wintersportler zum respektvollen Umgang mit der Natur informiert.
Mehr über die Initiative: kleinwalsertal.com/natur-bewusst-erleben
LITERATUR
• Skitourenführer »Allgäuer Alpen«
(Panico; ISBN 978-3-95611-183-9; 29,90 Euro)
• »Die schönsten Skitouren der Allgäuer und Lechtaler Alpen« (Bruckmann; ISBN 978-3-7654-4571-2; 19,95 Euro)
INFOS IM NETZ
Informationen zu Übernachtungen, Winteraktivitäten, Wellnessmöglichkeiten und Co. bietet die Website von Kleinwalsertal Tourismus: kleinwalsertal.com
ABFAHRTSSPASS AM HOHEN IFEN
Um Zeit zu sparen, schummeln wir: Mit dem Ifenlift geht es zunächst über die blaue Piste auf die Gottesackerseite am Hohen Ifen. Bereits bei der Zufahrt ins Kleinwalsertal sticht der Hohe Ifen als formschöner Gipfel aus den umliegenden Bergen heraus. Seine markante, schiefe Ebene bricht nach Süden mit einem kilometerbreiten Felsriegel ab, der in den Sommermonaten zahlreiche Sportkletterer an die Wände lockt.
An der Nordseite, wo wir unterwegs sind, sticht das Gottesackerplateau ins Auge. Mitten in der weitläufigen Karstfläche befindet sich das sagenumwobene Hölloch, ein weitverzweigtes Höhlenlabyrinth mit Ganglängen von über zwölf Kilometern.
Der Wind zerrt an der Jacke, die Landschaft ist – je nach Hangexposition und vorherigen Windverhältnissen – mit einem Guss aus komprimiertem Schnee oder feinem Pulver bedeckt. Die Mütze noch mal tiefer ziehen, den Rucksack festschnallen. Nach einem Schluck aus der Thermoskanne blicke ich zum Horizont und entdecke in der Ferne den Bodensee. Der Blick schweift nach links. Latschenkiefern ragen aus dem Tiefschnee. Fichten verteilen sich quer über die Hochfläche, die auf allen Seiten von Kalkfelsen eingerahmt wird, als wären es Schutzmauern. Erstaunlich, wie ruhig es hier ist, gerade mal einen Kilometer Luftlinie entfernt vom belebten Skizirkus des Pistenbetriebs am Fellhorn und der Kanzelwand. Ist es hier nur heute so einsam, weil der Wind so stark pfeift?
»Das Kleinwalsertal ist ein beliebtes Gebiet für Tourengeher. Aber auf Skitouren will ich am liebsten nur meine eigene Spur sehen und die von den Wildtieren«, sagt Ernst. Wenn es nach ihm ginge, dürften die Berge so bleiben, wie sie sind: rau und wild. Um die Ästhetik der geschlossenen Schneedecke nicht zu ruinieren, lautet sein Befehl »parallel abfahren«, und meint damit, anders als erwartet, nicht die Ski an den Füßen, sondern das enge Nebeneinanderfahren. »Sodass man hinterher im Hang ein schönes Muster sieht, den Teppich.«
Wir haben Glück, dass wir heute alleine unterwegs sind. Immerhin liegt das Kleinwalsertal mit rund 1,5 Millionen Übernachtungen an fünfter Stelle aller österreichischen Tourismusregionen.
SAGENUMWOBENER GOTTESACKER
Wir passieren den Gottesacker, eine unter Naturschutz stehende Karstlandschaft, hinter der die schräg gestellte Mauer des Ifen wuchtet. Für Geologen ein Spektakel. Im Sommer sieht man die Karren, tiefe Rillen an der steinernen, fast weißen Plateauoberfläche, die von Niederschlägen und der Schneeschmelze in den Kalk gefräst wurden. In weiten Wellen zieht sich die bizarre Felslandschaft auf einer Fläche von etwas mehr als drei mal drei Kilometern vom Hohen Ifen zu den Gottesackerwänden. Nicht umsonst haben die frühen Siedler den Namen Gottesacker gewählt, der einmal sehr fruchtbar gewesen sein soll, ein »Acker Gottes«. Der Legende nach stand hier einst ein großer Bauernhof. Doch der Bauer behandelte seine Knechte und Mägde schlecht, der Hof wurde verflucht, ein Blitz schlug ein. Das Gelände erstarrte zu Stein. Im Sommer setzen Wanderungen über das zerfurchte Gelände Trittsicherheit voraus. Dafür kommt man in den Genuss eines Terrains, das wegen seiner fehlenden almwirtschaftlichen Nutzung – im Kleinwalsertal eher ungewöhnlich – einen ursprünglichen Charme versprüht und an skandinavische Fjells erinnert. Eine weitere klassische Tourenabfahrt führt hier hindurch: Vom Mahdtalhaus der DAV-Sektion Stuttgart windet sich die ausgeschilderte Aufstiegsroute durch den Wald hinauf zum Toreck und zur Torscharte. Extra für Tourengeher wurde hier eine Schneise angelegt. Als Ausgleich haben ehrenamtliche Helfer andernorts junge Bäume in den alpinen Schutzwald gepflanzt.
Uli Ernst wedelt wie ein Filmstar Richtung Tal. Einzelne Sonnenstrahlen dringen immer wieder als dicke Lichtfinger zwischen der Wolkendecke hindurch. Dünenartig mutet die Schneeoberfläche an. Immer wieder wirbelt der Wind den trockenen Schnee auf, verwischt unsere Spuren. Es tut gut, die eiskalte Luft einzuatmen und in der Natur unterwegs zu sein, ohne Schnickschnack, mit Käsebrot, Tee und Lawinenausrüstung im Rucksack. Abwechslungsreiche Tourenoptionen in allen Levels bietet das Kleinwalsertal allemal: »Vom Walmendingerhorn kann man zur Litzescharte (1.870 m) zwischen den Ochsenhofer Köpfen aufsteigen und über die Nordrücken der Galtochsenhofalpe zur Auenhütte ins Schwarzwassertal abfahren«, sagt Ernst. Die Bilanz der Tour geht auf: Rund 250 Meter Aufstieg stehen circa 900 Höhenmetern Abfahrtsgenuss gegenüber.
Der Allgäuer Hauptkamm rückt ins Blickfeld. Bei klarer Sicht öffnen sich von hier auch Aussichten über das ganze Schweizer Alpenpanorama von der Schesaplana über die Tödi bis zum Säntis. Geografisch gehört das Kleinwalsertal zum Bundesland Vorarlberg, topografisch gesehen liegt es innerhalb der Allgäuer Alpen. Und aus kultureller Sicht ist es schwer einzuordnen: Die Nachkommen der echten Walser, das waren damals fünf Familien, die im 13. Jahrhundert über den Hochalppass von Schröcken nach Baad zugewandert sind, sprechen nämlich nicht wie typische Vorarlberger. Allerdings auch nicht wie klassische Allgäuer – ihr Akzent liegt irgendwo dazwischen.
DRAUSSEN BLEIBEN: WILDRUHEZONEN
Später, unterhalb der Baumgrenze, darf man nicht der Versuchung nachgeben, in der Falllinie bis nach unten zu wedeln. Hier haben die Wildtiere eine Ruhezone, die in einem weiten Rechtsbogen umfahren werden muss. Wem der Magen knurrt, macht einen Abstecher zur Schwarzwasserhütte.
Wie in Watte gepackt, reihen sich die Hausberge Grünhorn, Steinmandl und Hählekopf um die Hütte. Das Hochtal des Schwarzwasser ermöglicht drei beliebig kombinierbare Rundtouren: Eine führt zum Hählekopf, die andere über den Gerachsattel zum Neuhornbachhaus und Steinmandl. Bei der dritten Runde geht’s zum Grünhorn, das Richtung Baad lohnenswerte Abfahrten bietet. »Trotz Klimawandel kann man sich im Kleinwalsertal noch eine Weile auf Schnee verlassen, denn die Region gilt als Schneeloch«, verspricht man mir. Eine sichere Lawinenlage ist für alle Touren oberstes Gebot. »Grandios ist auch die Tour durch das Ochsenloch ins steile Kar, das in der Scharte zwischen Mittlerem und Südlichem Schafalpenkopf endet«, erzählt eine der mitreisenden Journalistinnen nachmittags beim Kaffee. »Von dort aus sieht man die nahen Allgäuer Hauptgipfel.«
»Diese Winterberge muss man genießen«, sagt Uli Ernst fasziniert, als wäre er zum allerersten Mal hier. Ich werde daran denken, wenn ich wieder ins Gartenhaus gehe und den Kalender sehe.