Auf der Suche nach Stille
Das Val Grande sei eines der wildesten Gebiete im Alpenbogen, sagen einige. Sicher ist: Entscheidet man sich für eine Tour, verabschiedet man sich von den Annehmlichkeiten der Zivilisation. Für Übernachtungen stehen offene Hütten zur Verfügung, die unbewartet sind. Das bedeutet, dass man alles mitnehmen muss: Lebensmittel, Kocher und Schlafsack. Das Trinkwasser holt man sich in der Regel aus einem Bach oder aus Brunnen in der Nähe der Hütten. Verlangt sind gute Kondition und Orientierungssinn. Paul Christener hat sich ins Abenteuer gewagt.
Text/Bilder: Paul Christener
Nach dem dritten oder vierten Mal realisiere ich die Ursache. Meine Hände suchen die Uhr, die ich gestern Abend irgendwo in der Nähe abgelegt habe. Sie liegt unter dem Rucksack, ein Druck auf eine Taste sorgt für Ruhe – der Schlaf hat sich jedoch verabschiedet. Ich liege in meinem Schlafsack unter dem Dach einer einfachen Berghütte im oberen Val Grande. Neben mir die leisen Geräusche meiner Frau. Sie hat sich nicht beeindrucken lassen vom Wecker. Wir sind vor ein paar Tagen unten in Verbania gestartet und wollen denn Übergang zur nächsten Jahreszeit erleben, vom Herbst zum Winter. Die Voraussetzungen könnten nicht besser sein. Das Thermometer ist während den letzten verregneten Tagen markant gesunken. Gestern dann die Wende, die Temperatur kletterte in angenehme Bereiche. Der über Nacht gestiegene Luftdruck weist auf eine beginnende Hochdruckphase hin, normalerweise ein Hinweis für gutes Wetter.
Spuren vergangener Zeiten
Bis ins 20. Jahrhundert wurden die Täler hier oben intensiv für Alm- und Forstwirtschaft genutzt. Die Spuren dieser Zeit sind sichtbar, eingefallene Ruinen von Gebäuden und Seilbahnstationen, die für den Transport von Holz verwendet wurden.Während des Zweiten Weltkriegs organisierten Partisanen ihren Widerstand aus den schwer zugänglichen Tälern. Danach wurde die Region aufgegeben. Die Natur holte sich in kurzer Zeit zurück, was ihr die Menschen über Jahrzehnte abgerungen haben. Im nahen Großraum Milano zu leben, versprach bessere Bedingungen. Mit der Gründung des Nationalparks Val Grande 1992 begannen ein paar Enthusiasten mit der Instandstellung von Fußwegen und der Renovierung einzelner Hütten, die offen sind und benutzt werden können
Der Tag bricht an. Durch das kleine Fenster lässt sich ein schwacher, heller Streifen im Osten erkennen. Regen tropft auf das Dach der Hütte, in der wir die letzte Nacht verbracht haben. Sie wurde vor ein paar hundert Jahren mit einfachsten Werkzeugen und aus Material gebaut, das aus der Umgebung stammt. Selbst das Dach ist aus Steinen gebaut, die von Holzbalken getragen werden. Die Hütte Colma di Premosello – wie die meisten anderen auch – besteht aus einem Raum mit einem Ofen, einem Tisch und ein paar Stühlen. Unter dem Dach befindet sich ein Boden, auf dem wir unsere Schlafsäcke ausgebreitet haben.
Wie das wohl gewesen ist, hier oben, als die Hütte gebaut wurde? Geschichtsbüchern zufolge hat man damals keine Berge bestiegen. Die Menschen arbeiteten auf Almen, um zu überleben. Berge waren bedrohliche und gefährliche Orte. Sie glaubten, dass etwas Dunkles in den Bergen gelebt habe, etwas, das Stürme und Lawinen in die Täler hinunterschickte. Oder so ähnlich. Sicher hat damals keiner daran gedacht, dass irgendwann Menschen ihre Ferien hier verbringen: Cicogna ist das einzige Dorf, das heute noch bewohnt ist. Sonst hat es keiner mehr ausgehalten, außer zwei oder drei Aussteigern, die sich bewusst für ein Leben außerhalb der Zivilisation entschieden haben und in verlassenen Hütten hausen.