Tell-Trail

Auf den Spuren des Schweizer Nationalhelden

Auf einer neuen Mehrtagesroute durch die Zentralschweiz werden auf den Spuren des Nationalhelden Wilhelm Tell wunderbare Aussichtsgipfel, schöne Höhenwege und spektakuläre Bergbahnen kombiniert. Willkommen im Herzen der Schweiz!

Text: Andrea Strauss

Bis vor kurzem dauerte die Begehung des Tellwegs nur wenige Minuten. Zwei bis drei Minuten für den Tellweg in Wuppertal, genauso lang für den Namensvetter in Leipzig und selbst in Obernhau im Erzgebirge ist man in zehn Minuten am Ziel. Das hat sich jetzt geändert. Das neue Original schlängelt sich durch die Zentralschweiz, ist 130 Kilometer lang, in einer guten Woche begehbar und verbindet nicht nur viele historische Schauplätze der Wilhelm-Tell-Geschichte, sondern auch die schönsten Plätze zwischen Vierwaldstättersee und Brienzersee. Komplett neu ist der Weg natürlich nicht. Auf den meisten Teilabschnitten wandert man auf etablierten Routen. Und doch ist die Idee sehr gut, die die Initiatoren des Tell-Trails hatten, geben sie doch eine wunderschöne Linie vor. Außerdem wurde ein Teilstück auf der Königsetappe aufwendig in Stand gesetzt und an einem neuralgischen Punkt steht pünktlich zur Eröffnung des Tell-Trails im Frühsommer 2021 ein Zeltlager, so dass nicht nur die Etappenaufteilung gut funktioniert, sondern mit einer Nacht unterm Sternenhimmel auch ein ganz besonderes Erlebnis lockt.

Nicht zuletzt kann man als Trekker auf dem Tell-Trail den Tell-Pass nutzen. So heißt die Gästekarte, die für einen Pauschalbetrag alle öffentlichen Verkehrsmittel, die Schiffe auf dem Vierwaldstättersee und die Bergbahnen einschließt.

Tag 1: Altdorf

Da stehen sie, Wilhelm und der kleine Walther. Vater und Sohn. Mitten am Rathausplatz. Seit über hundert Jahren schon. Ob sie so ausgesehen haben, wie der Künstler sie fürs Altdorfer Telldenkmal in Bronze gegossen hat? Ob es den Tell überhaupt gegeben hat?

Die Geschichte, wie Friedrich Schiller sie erzählt, geht jedenfalls so: Da gibt es den Habsburger Landvogt Gessler. Er sitzt auf seiner Burg in Küssnacht und ist ein Tyrann der übelsten Sorte. Das geht so weit, dass er seine Untertanen sogar seinen auf einer Stange aufgestellten Hut grüßen lässt. Tell weigert sich und Gessler lässt ihn zur Strafe einen Apfel vom Kopf seines eigenen Kindes schießen.

Passiert sein soll das im Jahr 1307 und herausgekommen ist letztlich ein Tyrannenmord, ein Aufstand und ein paar Jahre später ein neuer, unabhängiger Staat: die Schweiz. Auch wenn die Forschung Wilhelm Tell und seinen Apfelschuss heute als Sage einordnet, so ist die Idee von Freiheit und Widerstand gegen einen Unterdrücker doch zu schön. Der Vater, der sich nicht verbiegen lässt, aber dann am wunden Punkt getroffen wird und seine Familie nicht mehr schützen kann – eine starke Geschichte.

In Altdorf soll der Apfelschuss stattgefunden haben, will man Schiller glauben. Und hier am Telldenkmal beginnt auch der Tell-Trail. Anfangs geht es unter Tells heldenhaftem Blick nach Bürglen in den Nachbarort. Wilhelm und Walther warten dort schon wieder auf uns. Dieses Mal als Brunnenfigur und statt in Bronze in freundlichen Farben. Nahe Bürglen startet auch die Seilbahn Ruogig. Sie nimmt uns den ersten Anstieg ab und bringt uns in kurzer Zeit von 600 auf 1.700 Meter hinauf. Der erste Tag ist mit fünf Stunden Gehzeit nicht allzu lang, aber zum »Warmwerden« gerade richtig.

Der einzige Anstieg heute führt hinauf zum Chinzigpass, der hier Chinzig Chulm heißt und auf 2.073 Metern liegt. Die Welt dorthinauf ist vor allem grün, mit großen Weideflächen für die Kühe. Nicht weit von der Bergstation kommt man denn auch an einer Alpkäserei vorüber, später immer wieder an Almen, erst zuletzt zum Pass hinauf wird die Szenerie ein wenig felsig.

Bevor wir auf die Nordseite ins Wängital absteigen, blicken wir gebannt in die Runde. Gipfel über Gipfel! Von den meisten kennen wir nicht einmal die Namen. »Wir müssen den Tell öfter besuchen!«, beschließen wir.

Satte 1.500 Höhenmeter steigen wir ins Muotatal ab. Die erste Etappe ist geschafft. Wir sind wieder auf Meereshöhe des Vierwaldstättersees. Theoretisch könnte man weitere 900 Meter absteigen, denn nur ein paar Minuten von unserem Etappenziel befindet sich der Eingang ins Hölloch. Die riesige Karsthöhle ist eine der längsten der Welt, über 200 Kilometer sind vermessen!

Tag 2: Muotatal

Nein, wir bleiben lieber über Tage, zu schön ist die Landschaft. Zumal heute ein erster Höhepunkt auf dem Programm steht: der Grat vom Klingenstock hinüber zum Fronalpstock. Dazu wandern wir zunächst an der Muota entlang talauswärts Richtung Vierwaldstättersee, bis wir bei der Talstation der Standseilbahn Schwyz-Stoos sind.

Freilich, wir wollen wandern und nicht fahren. Aber ohne Seilbahnunterstützung wäre die zweite Etappe nicht machbar. Und auf den Fronalpstock deshalb zu verzichten, wäre viel zu schade. Also: klotzen statt kleckern! Wenn der Tell-Pass schon freie Fahrt gewährt, dann wollen wir sie auch nutzen: mit der steilsten Standseilbahn der Welt (110 %!) sehr futuristisch hinauf ins autofrei Stoos, dann mit dem Sessellift auf den Klingenstock, später mit dem Sessellift vom Fronalpstock zurück nach Stoos und gleich noch mit der Seilbahn weiter hinab nach Morschach.

Die »eingesparte« Zeit verbringen wir besser mit schauen, denn schon der Klingenstock bietet tolles Panorama vom Mythen über Säntis, Glärnisch, Chaiserstock bis zu Windgällen und Pilatus. Aber am Fronalpstock wird der Blick auch noch auf den Tödi frei und die Rigi, die ja tags darauf unsere nächste Aussichtskanzel wird.

Überhaupt, der Fronalpstock! Kein hoher Nachbar versperrt den Blick, alle stehen sie in gebührendem Abstand. Und tief unten leuchtet der Vierwaldstättersee herauf. Oder wie Schiller seinen Tell beginnen lässt: »Es lächelt der See, er ladet zum Bade.« Passend dazu endet Etappe 2 in Brunnen, direkt am Ufer des Vierwaldstättersees.

Tag 3: Brunnen

Königin der Berge, wir kommen! Die Rigi ist unser einziger Berg an diesem Tag. Aber was will das schon heißen? Wir haben eine Audienz bei der Königin, eine ganztägige Audienz. Sie beginnt morgens in Brunnen am Fuß des Bergs, geht nach der Auffahrt mit der Seilbahn Urmiberg für insgesamt 16 Kilometer über fast den gesamten Höhenrücken der Rigi mit allen seinen Nebengipfeln und seinen wechselnden Blicken auf die Seen (Lauerzer-, Zuger- und Vierwaldstättersee) und endet schließlich nach einer langen Pause am Aussichtspunkt Känzeli mit der Fahrt von Rigi Kaltbad hinab nach Vitznau.

In Vitznau ist der Tag noch nicht zu Ende. Wir bringen uns für die nächste Etappe in die Pole-Position und fahren mit dem Schiff über den Vierwaldstättersee nach Luzern.

Fast sind wir damit wieder auf Tells Spuren. Denn mit dem berühmten Apfelschuss in Altdorf ist die Geschichte noch nicht beendet. Tell hatte nämlich einen zweiten Pfeil paratgelegt. Der war für den Landvogt vorgesehen – hätte er mit dem ersten Schuss nicht den Apfel, sondern den Sohn getroffen. Die Aussicht auf ein Happy End ist damit erst einmal dahin. Tell wird verhaftet, soll im Schiff über den Vierwaldstättersee nach Küssnacht in den Kerker gebracht werden. Weil der Vierwaldstättersee heute zwar wunderbar ruhig ist, aber auf Tells Überfahrt Sturm herrscht, kann er entkommen. Er springt ans Ufer, geht zu Fuß nach Küssnacht, wartet dort auf Gessler und begeht in der Hohlen Gasse den Tyrannenmord.

Bis zur Hohlen Gasse sehen wir zwar nicht auf der Überfahrt, aber der Blick auf die Bucht von Küssnacht wird bei der Überfahrt nach Luzern frei.

Tag 4: Luzern

»Gehen wir eigentlich im Kreis? Ist das immer noch der Vierwaldstättersee?« Oben am Pilatus auf 2.128 Metern mag man kaum glauben, dass auch am vierten Tag der See dort unten immer noch der Vierwaldstättersee ist. Bald haben wir ihn aus allen Himmelsrichtungen gesehen. Jedes Mal sieht er anders aus, jedes Mal ist er schön.

Seinen Namen hat er von den vier Kantonen, die ihn sich teilen. Durch drei sind wir schon gekommen auf dem Tell-Trail: Uri, Schwyz und Luzern. Im Aufstieg zum Pilatus werden wir noch den vierten Kanton kennen lernen: Nidwalden.

»Ruhetag? Hatten wir nicht von einem Ruhetag gesprochen?« Hinauf zum Pilatus darf man diese Frage stellen. Rund 1.600 Höhenmeter sind es vom Fuß des Bergs bis zum Gipfel. Vor allem auf dem letzten Stück folgt Serpentine auf Serpentine. Mit rund fünf Stunden Gehzeit ist dieser Tag dennoch relativ kurz. Ob wir Kräfte sammeln werden für die morgige Königsetappe? Zweifel sind angebracht.

Der Pilatus selbst ist ein besonderes Erlebnis. Als Aussichtsberg genießt er einen sehr guten Ruf. Uns beeindruckt er mindestens so sehr wie der Rigi gestern. Seine solitäre Lage hoch über Luzern hat außerdem früh schon dazu geführt, dass sich Sagen und Geschichten um ihn sponnen: Pontius Pilatus soll hier im ehemaligen Pilatussee begraben sein und zuweilen auferstehen. Der Berg soll auch ein Wetteranzeiger sein und der Sitz von Drachen und Hexen. Im Mittelalter war seine Besteigung sogar verboten; heute gehen zwei Seilbahnen und eine Zahnradbahn zum Gipfel hinauf. Mit der Zahnradbahn, der Pilatusbahn, werden wir die gut 1.600 Höhenmeter nach Süden hinunterfahren. Nach der Schwyz-Stoos-Bahn wird sie unser zweiter »Weltrekord« sein: Sie soll die steilste Zahnradbahn der Welt sein!

Tag 5: Stans

Cabrio-Fahren hat Sexappeal, zweifelsfrei. Dass das »CabriO« von Stans aufs Stanserhorn nicht frei die Fahrstrecke wählen kann, tut dem keinen Abbruch. Was für eine geniale Idee! Eine Seilbahn, bei der man wie im Cabrio mit offenem Verdeck fahren kann. Ungehinderter Seeblick auf den Vierwaldstättersee. Wir genießen es nochmals in vollen Zügen, da wir oben am Gipfel erst einmal Abschied nehmen vom See.

Jetzt wendet sich die Aufmerksamkeit aufs Bergpanorama und zu immer größeren Teilen auch auf den Weg, der extra für den Tell-Trail ausgebaut wurde und teils versichert ist. Zehn lange Stunden hat die Königsetappe vom Stanserhorn bis nach Engelberg gedauert, mit 1.500 Höhenmetern im Aufstieg und 2.400 im Abstieg. Fast meint man, den fürsorglichen Fingerzeig der Weginitiatoren zu sehen, mit dem Rat, die Etappe zu halbieren und das neue Zeltlager auf der Laucherenalp anzunehmen. Andererseits ist der Weg über den Gratrücken nach Süden so schön, so aussichtsreich, dass man gar nicht stoppen möchte. Weiter, immer weiter!

Tag 6: Engelberg

Vom Vierwaldstättersee haben wir uns verabschieden müssen, aber die sechste Etappe bringt uns dafür an insgesamt neun kleineren Seen vorbei: Eugenisee, Feldmoos, Trübsee, Engstlensee, Tannensee, Melchsee, Blausee und Seefeldsee.. Ob man allerdings nochmals Schiller zitieren möchte – »Es lächelt der See, er ladet zum Bade« –, ist zweifelhaft. Schon der Ausgangspunkt Engelberg liegt auf 1.000 Metern, die Seen deutlich höher und die Berge, die den Talschluss bei Engelberg einrahmen, reichen über die 3.000er Marke. Perfektes Wandergelände ist das, aber kein Warmbadetag für Badenixen. Wer dennoch ein Bad in Erwägung zieht, ist mit Schillers Spruch »Dem Mutigen hilft Gott!« am besten bedient.

Tag 7: Älggialp

Sehr zentriert wandern wir am vorletzten Tag von Älggialp los. Kein Wunder, wir haben am Mittelpunkt der Schweiz genächtigt. Heute wird konsequent zu Fuß gegangen. Ein bisschen Wiese, ein bisschen Wald, wenig bergauf, mehr bergab. Bergblumen, Schmetterlinge, ein Specht, ein neugieriges Eichhörnchen – sechs eher beschauliche Stunden bringen uns nach Lungern hinab.

Dieser etwas ruhigere Tag tut gut. Die Festplatte im Kopf war in den letzten Tagen auf Höchstleistung, um alles zu speichern, was an neuen Eindrücken kam. Das letzte Stück hinab auf den Lungerersee beschert dann aber doch noch viel neues Material, das in der Erinnerung festgehalten werden will. Unwirklich türkisblau schimmert die Seefläche. Zur einen Seite ist der See von einem steilen Ufer eingefasst, auf der anderen von Wiesengelände und vom Ort Lungern. Dass wir hier unsere letzte Nacht am Tell-Trail verbringen dürfen, freut uns. Schon bevor wir den Ort betreten haben, ist klar: Hier bleibt man gern.

Tag 8: Lungern

»Den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren«, sagt Tell. Und damit gehen wir auf die letzte Etappe des Wegs. Es wird ein weiterer Höhepunkt. Vielleicht sogar der Höhepunkt, jedenfalls aber der höchste Punkt des Tell-Trails.

Das erste Wegstück nimmt uns die Seilbahn nach Turren ab. Mit ein wenig Auf und Ab kommt man dann aber zügig auf den langen Kamm, der zum Brienzer Rothorn leitet. »Lang« meint in diesem Fall tatsächlich »lang«, sehr lang. Luftlinie fehlt nicht viel von dreißig Kilometern. Vor allem aber sind es die teils messerscharfe Form dieser Linie und die steilen Flanken nach beiden Seiten. Bis zum Brienzer Rothorn ist der Grat noch nicht so markant ausgeprägt, in der Folge dafür umso mehr. Wie ein Catwalk für trittsichere Bergsteiger.

Das Rothorn. Eine Aussichtsloge, wie wir sie noch nicht gesehen haben. Und das will etwas heißen, nach sieben Tagen am Tell-Trail, nach Fronalpstock und Rigi, nach Pilatus und Stanserhorn. Die genannten sehen wir alle (bis auf den Fronalpstock) nochmals, können hinüberwinken wie zu alten Bekannten. Wir sehen auch den spitzen Titlis und den behäbig wirkenden Dammastock.

Aber beherrschend und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend sind die Berner Alpen. Sie nehmen das südliche Viertel unseres Blicks ein, ragen über dem Brienzersee in den Himmel. Mächtige Berge von großartiger Form und beachtlicher Höhe: Lauteraarhorn, Schreckhorn, Finsteraarhorn, Eiger, Mönch, Jungfrau, Blüemlisalphorn und in der französischen Schweiz Les Diablerets.

Ewig möchte man bleiben. Aber weil auch Tell nichts auf die ganz lange Bank schob, wird es irgendwann Zeit, an den Weg ins Tal zu denken – »Der kluge Mann baut vor.« Drei Möglichkeiten gibt es dafür: die Originaltrasse des Tell-Trails mit der Seilbahn nach Norden hinab nach Sörenberg. Oder die Zahnradbahn auf der Südseite nach Brienz. Die dritte und letzte Möglichkeit ist die Verlängerung des Tell-Trails: Oben am Rothorn übernachten und am nächsten Tag über den Brienzergrat bis auf die Höhe von Interlaken. Aber, um es mit Tell zu sagen: »Sein Weg ist weit …«


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Die GPS-Daten wurden von unseren Autoren und dem Verlag erfasst und nach bestem Wissen überprüft. Abweichungen oder Fehler können allerdings nicht ausgeschlossen werden, da sich zum Beispiel auch die Gelände-Situationen zwischenzeitlich verändern können. Sachverstand in der Beurteilung der jeweiligen Gegebenheiten vor Ort ist also unabdingbar.


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