Die Cottischen Alpen sind eine Welt für sich: ruhig, mit weitläufigen Tälern, alten Kirchen, romantischen Dörfern und vielen Seen im Hochgebirge. Entlang der italienisch-französischen Grenze kann man im Valle Maira, im Tal der Ubaye und in den Nachbartälern wunderbar grenzschlängeln.

Keine Miene verzieht der alte Mann. Abgestützt auf seinen Stock hat er den beiden Motorradfahrern zugesehen. Mit laufenden Motoren waren sie an der Passhöhe hoch über dem Valle Maira vor der Sperrtafel gestanden. Sie hatten auf der Karte nachgesehen, sie hatten vergeblich versucht, ins Internet zu kommen, sie hatten beratschlagt. Aber den alten Mann hatten sie nicht gefragt und er hatte sich auch nicht vom Fleck gerührt. Laut schimpfend waren sie schließlich die Bergstraße wieder hinabgefahren, auf der sie heraufgekommen waren.
Jetzt ist es wieder still, nur die Grillen zirpen. Der Wind streicht leicht über die hohen Gräser. Der blühende Klappertopf, der zur Zeit die Sommerwiesen hellgelb erscheinen lässt, nickt sacht vor sich hin. Der Alte steht so da wie vor fünf Minuten schon. Was er wohl denkt? »Was regen die sich auf? Die Straße ins Varaitatal ist seit Jahren schon gesperrt. Weiß man doch.« Oder: »Sie hätten mich fragen können. Mit den Motorrädern wären sie durchgekommen.« Vielleicht hat ihn ein Leben in den Bergen auch gelehrt, nichts zu denken. Atmen, die Sonne auf der Haut spüren, froh sein, dass der Rücken gerade nicht schmerzt, liebe Gedanken an den Sohn senden, der draußen in Turin eine Arbeitsstelle gefunden hat und eine Frau.
Im Valle Maira ticken die Uhren anders. Hier und in den Nachbartälern, die aus dem Turiner Becken in die Berge führen, sind Wirtschaftswunder so wahrscheinlich wie bergauf fließende Bäche: Es gibt sie weder im Val Stura im Süden, noch im Valle Maira oder nördlich davon im Val Varaita, im Valle Po oder im Valle Pellice. Das Val Stura hat immerhin einen ganzjährig offenen Übergang über den Col de Larche nach Frankreich und damit eine passable Verkehrsanbindung. Aus dem Valle Varaita gibt es nur im Sommer eine Verbindung über den kleinen Col Agnel ins französische Queyras. Die anderen Täler enden als Sackgasse. Des einen Freud, des anderen Leid.
Wir bleiben noch eine ganze Weile auf der Passhöhe Sampeyre stehen und blicken hinein in die Berge über dem Valle Maira. Dann erst manchen wir uns auf den Weg zurück ins Tal. Mit einer Reihe von Tagestouren wollen wir das Valle Maira auf uns wirken lassen. Vielleicht schließen wir den Urlaub hier mit einer kleinen Mehrtagesrunde ab. Wer weiß? Der Charme des Urlaubs besteht ja auch darin, nicht von Anfang an schon durchgetaktet jeden Programmpunkt zu kennen.
Das extrastille Tal
Direkt gegenüber des Sampeyre-Passes zweigt bei Ponte Marmora ein Seitental ab. Dreimal noch gibt es auf der Straße bergauf ein paar Häuser: Vernetti, Canosio und Preit. Mit einer Wanderung zum Lago Nero wollen wir diese extrastille Ecke des Mairatals erkunden. Wir sind das einzige Fahrzeug am Ausgangspunkt an der Alm Selvest. Das Almsträßchen, über das wir aufsteigen, führt bergan zur Alm Grange Culausa. Über einen Steig gewinnen wir weiter an Höhe. Letzte lilafarbene Soldanellen verraten uns, dass die Schneereste hier auf der Nordseite noch nicht vor allzu langer Zeit abgetaut sind. Auch die weißen Buschwindröschen sehen noch aus wie frisch aus der Wäsche: keine einzige braune Stelle an den Blütenblättern. Das ist wirklich etwas Besonderes, denn nach dem ersten Regen oder auch ein paar wenigen warmen Tagen haben sie in der Regel bereits die ersten braunen Ränder.
Wir lassen uns Zeit, genießen die Stille. Auch dass das Wetter schlechter wird, müssen wir nicht befürchten. Die Wolken hängen bereits niedrig und verbergen selbst die nahegelegenen Gipfel. Den mächtigen Monviso, den höchsten Berg der Cottischen Alpen, werden wir heute auf keinen Fall sehen. Fast drei Stunden bummeln wir hinauf zum See. Bei gutem Wetter könnte man die Strecke auch in der halben Zeit laufen.
Um nicht auf demselben Weg abzusteigen, wenden wir uns nach Norden und steigen über die Alm Chiacarloso ab. Nein, voll wird es auch hier nicht. Weder Wanderer noch Jäger oder Almbauern treffen wir; keine Touristen und keines der 79 Gemeindemitglieder aus Canosio oder Preit.
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